19/08/2024 0 Kommentare
Predigt über Lukas 13,10-17 am 18. August 2024: Was dient dem Leben?
Predigt über Lukas 13,10-17 am 18. August 2024: Was dient dem Leben?
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Predigt über Lukas 13,10-17 am 18. August 2024: Was dient dem Leben?
10 Und Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat. 11 Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. 12 Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit! 13 Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.
14 Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag. 15 Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? 16 Musste dann nicht diese, die doch eine Tochter Abrahams ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden? 17 Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.
Liebe Gemeinde,
es gibt einige dieser Geschichten in den Evangelien: in denen erzählt wird, dass Jesus am Sabbat, wo man eigentlich nichts tun soll, etwas tut – und in diesem Fall jemanden heilt.
In unserer christlichen Tradition waren und sind diese Geschichten immer ein gefundenes Fressen.
Dienen doch diese Geschichten als Steilvorlage, gegen das jüdische Gesetz – die Tora – zu argumentieren: wenn Jesus jemanden aus einer Not heraushilft… was dann von offiziellen Vertretern des Judentums kritisiert wird …und wo dann am Ende deren Kritik als falsch und daher als anscheinend „unchristlich“ entlarvt wird.
Auf der einen Seite das „düstere“, lebensfeindliche Gesetz und auf der anderen Seite Jesus, der davon befreit.
Diese Lesart hat etwas vollkommen Absurdes: hat sich doch das Christentum im Blick auf die eigenen Regeln über die vielen Jahrhunderte oft genug als mehr als lebensfeindlich erwiesen.
Und grundsätzlich: Effektiv ist diese christliche Lesart Ausdruck einer verstellenden Sichtweise auf das Gesetz – die Tora.
Gucken wir uns nun diese Geschichte aus dem Lukasevangelium genauer an, geht es um eine entscheidende Frage.
Und die lautet:
„Was dient dem Leben?“
Und das ist eine Frage, die in der DNA des theologischen Denkens des Alten Testamentes und des Judentums von Beginn an verankert ist:
Was bedeutet das, dass das zur DNA des Judentums gehört?
Das Gesetz – die Weisungen Gottes – die Tora ist nach biblischem Verständnis dazu da, die Freiheit des Volkes Israels – also Leben! – zu schützen. Die biblische Erzählweise zeichnet es wunderbar nach: nachdem das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden war und sich nun in der Freiheit befand, bekam das Volk die Tora, um die geschenkte Freiheit zu erhalten und zu kultivieren.
Was Jesus an anderer Stelle sagt, dass das Gesetz für den Menschen da ist und nicht unbekehrt der Mensch für das Gesetz, hat am Sinai – mitten in der Wüste als Mose dem Volk das Gesetz übergibt – seinen Grund und seine Wurzel.
Und weil es um den Menschen geht – um das Wohlergehen im Miteinander – weil es genau darum geht, ist die Frage, was denn dem Leben dient, eine Leitfrage, die das Judentum seitdem begleitet.
Dietrich Bonhoeffer hat als einer der wenigen, die das verstanden haben, uns ein sehr anschauliches Beispiel unserem protestantischen Denken mitgegeben:
Er erzählt die Geschichte von einem Schüler, der vor versammelter Klasse von seinem Lehrer gefragt wird, ob sein Vater wieder betrunken nach Hause gekommen sei. Der angesprochene Schüler verneint das – obwohl er nicht die Wahrheit sagt: denn sein Vater war am Vorabend wieder einmal betrunken gewesen. Der Schüler lügt – er verstößt gegen das Gebot, nicht zu lügen. Doch Bonhoeffer macht klar, dass der Schüler genau das Richtige getan habe. In dem Fall diente es dem Leben – der Integrität des Schülers – nicht die Wahrheit zu sagen – umgekehrt macht dieses Beispiel deutlich, dass das Unrecht auf Seiten des Lehrers lag, der versuchte, einen Schutzbefohlenen öffentlich bloß zu stellen.
Es gibt Situationen, in denen ein Gebot – wenn man es so befolgt – genau das Gegenteil bewirkt. Und genau deshalb hilft die Frage, was denn genau in dieser Situation dem Leben dient und was nicht.
Deshalb erzählt Lukas von diesem Vorfall am Sabbat. Der Sabbat ist nicht irgend ein Tag: dieser Tag soll ein geschützter Freiraum sein, wo sich Mensch und auch Tier erholen sollen und einfach sein dürfen ohne Druck – und wo es so wichtig ist, diesen Freiraum zu schützen…weil dieser Freiraum viel zu schnell aufgeweicht werden kann und wird.
Wir sind wir alle davon genau davon betroffen, da es diesen Freiraum quasi gar nicht mehr gibt: 24 Stunden / 7 Tage ist alles erreichbar, machbar, bestellbar – wir kennen diese heilsame Unterbrechung vom Alltag nicht mehr…so wie er mal gemeint war: am siebenten Tag einfach mal alles sein lassen und Zeit für sich, für andere und auch für die eigene Spiritualität zu haben.
Und nun arbeitet Jesus an genau an diesem Tag: er heilt die Frau.
Die Reaktion des Synagogenvorstehers ist erst einmal nicht vollkommen aus der Luft geholt:
„Kann das nicht bis morgen warten?“
Jesus beantwortet die Frage mit einem klaren „Nein“.
Warum?
Weil der Jude Jesus – ganz in seiner Tradition verankert - nichts anderes macht, als genau diese eine Frage – „was dem Lebe dient“ – zu stellen: den Sabbat einzuhalten oder eine Frau von ihrem Leiden zu erlösen?
Für Jesus war es klar, dass die Not der Frau im Vordergrund stand – weil die Not eben da war. Umso mehr, weil diese Not schon so lange die Frau geknechtet hat.
Kurzum: Die Not hat Vorrang. Auch am Sabbat – an dem Tag in der Woche, wo nichts getan werden soll.
Jesus geht es nicht darum, das gute Sabbatgebot aufzuweichen – erst recht nicht geht es ihm darum, dieses infrage zu stellen.
Er weist schlicht darauf hin, dass Not wichtiger ist, als das Gebot angesichts einer Notsituation strickt einzuhalten. So wie er auch auf Notwendigkeiten verweist, dass ja ein Tierbesitzer sein Tier am Sabbat nicht verdursten lässt.
Was Lukas da beschriebt ist also ein theologischer Diskurs.
Im Judentum heißt das, was Jesus da vorführt, Halacha: das Gesetz auszulegen.
Halachisches Denken.
Unsere christliche Tradition hat das schon durch die Übersetzungen verzerrt. Was Luther z.B. in unserem Text – wie auch die meisten anderen Übersetzenden mit „Heuchler“ ins Deutsche überträgt, übersetzt die „Bibel in gerechter Sprache“ m.E. angemessener mit: „Macht Euch doch nichts vor!“. Jesus kanzelt nicht ab, sondern bringt mit seinem Verweis auf den Durst der Tiere die Not-Wendigkeiten auch am Sabbat auf den Punkt. Er möchte, dass alle verstehen, worum es geht.
Und weil es um das Leben einer in Not geratenen Frau geht, ist Jesu Handeln am Sabbat auf der Linie dessen, was der Sabbath bewirken soll: Leben zu bewahren.
So bricht an dieser Stelle Jesus auch nicht das Sabbatgebot, wie es in unserer christlichen Tradition gerne ausgeführt wird. Nein! Jesus wird schlicht der Grundintention dieses Gebotes gerecht.
Zudem: wenn Lukas formuliert, dass er die Frau von ihrem Leiden erlöst – d.h. befreit, ist das ein Verweis darauf – und damit schließ sich der Kreis – das die Tora nur im Kontext des befreienden Handeln Gottes zu verstehen ist.
Jesus sucht in unserer Geschichte mit denen das Gespräch, die diese elementare Frage, was denn dem Leben dient, (vielleicht auch nur für diesen Moment) aus dem Blick verloren haben. Und wenn am Ende steht, dass die sich schämen – oder „beschämt“ waren, so wollte damit Lukas eben nur markieren, dass sie etwas verstanden haben und es ihnen leidtut, dass alles nicht von selbst erkennt zu haben.
Halachisches Denken.
Kein Gebot ist beliebig.
Und: kein Gebot der Tora ist statisch.
Ein Gebot ist natürlich erst einmal die Norm – und gleichzeitig: es darf in einer Situation, in der wie in unserer Geschichte Lebensbedürfnisse im Konflikt stehen, neu bewertet werden, ob die Befolgung eines Gebotes in einer konkreten Situation dem Leben dient oder nicht.
Ein Gebot oder ein Gesetz hat nur dann einen Sinn, wenn es dem Leben dient.
Was dient dem Leben?
Jesus stellt diese Frage.
Und: er gibt uns diese Frage an die Hand.
Daher wäre es interessant, diese Frage heute durchzubuchstabieren: angesichts nicht nur unserer kirchlichen Regeln – auch im Blick auf unsere gesellschaftlichen Regeln und Gesetze.
Und wir würden sehen, wie hoch politisch diese Frage ist – nicht nur in Wahlkampfzeiten.
Denn diese Frage, was dem Leben dient, dringt durch das Gestrüpp von Einzelinteressen und Begehrlichkeiten hindurch zu der eigentlich doch naheliegendsten Frage, ob eine Regel oder eine Entscheidung wirklich gut ist: human ist – dem Leben dient.
Wer wird wirklich geschützt?
Wessen Interessen?
Die Einzelner? Oder die des Gemeinwohls?
Geht es um Humanität?
Oder geht es um Wahltaktik? Populismus? Wählerstimmen?
Was dient dem Leben?
Es gibt da sicherlich nicht immer vollkommen einfache Antworten.
Manchmal ja – manchmal nein
Und doch nötigt uns diese elementare Frage dazu, das Wohl des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Und allein das ist ein unschätzbarer Wert.
Amen.
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