Predigt am Heiligen Abend: Hat die Utopie noch eine Zukunft?

Predigt am Heiligen Abend: Hat die Utopie noch eine Zukunft?

Predigt am Heiligen Abend: Hat die Utopie noch eine Zukunft?

# Predigten

Predigt am Heiligen Abend: Hat die Utopie noch eine Zukunft?

Liebe Gemeinde,

jetzt sind wir wieder hier – am Heiligen Abend.

Warum eigentlich?

Welche Sehnsüchte, welche Hoffnungen bewegen uns, an diesem Tag in einen Gottesdienst zu gehen?  

Sicherlich: für viele von uns gehört der Kirchgang an diesem Tag von klein auf einfach dazu. Es ist ja auch ein besonderer Tag. Vieles Vertraute. Nicht nur die Weihnachtslieder – eben auch die Weihnachtsgeschichte, die wir eben – wie jedes Jahr - gehört haben. Vertrautes und darin Beständiges: Beständiges, das in irgendeiner Form auch immer Sicherheit gibt – gerade in diesen Zeiten, in denen sich eh alles dauernd verändert.

Mir geht es jedenfalls so, dass ein Weihnachten ohne einen Gottesdienst kaum vorstellbar ist.  

Aber ist das der einzige Grund?  

Einer der wichtigsten Theologen des letzten Jahrhunderts – Karl Barth – hat einmal gesagt, dass ein Grund, dass Menschen (bewusst oder unbewusst) in den Gottesdienst gehen, der ist, eine Antwort zu finden auf die Frage, ob es denn auch wahr sei…wovon doch seit so langer Zeit geredet wird.  

Ob es kein Selbstbetrug ist, von einer geheilten Welt zu träumen?

Ob Schuld und all die Verstrickungen darin ein Ende haben können?

Ob Versöhnung möglich ist?  

Und speziell – transponiert auf den heutigen Tag – ob es denn wahr sei, dass dieses Kind in der Krippe, das uns als Messias…als Gottes Sohn vorgestellt wird, wirklich Frieden bringt – bringen kann.  

Und wenn wir heute dieser Frage nachgehen – ob es denn wahr sei, dann wissen wir doch alle um die Dringlichkeit: wie dramatisch diese Frage ist.  

In diesen Zeiten.

Voller Gewalt: fast zwei Jahre Krieg in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten.

Wo in jeder Hinsicht mental wie auch materiell aufgerüstet wird.

Wo in unserem Land davon geredet wird, dass wir kriegstüchtig werden müssen…angesichts all diesen Ungemachs.  

Wo es ja nicht nur um die Frage geht, ob die biblische Verkündigung wahr ist.

Leben wir doch in einer Zeit, in der das Träumen von Gewaltlosigkeit mehr und mehr im Abseits steht.

Wo allein das das Wort „Pazifismus“ mittlerweile mindestens mit einem abschätzigen Blick bedacht wird.

Ist es aus mit dem Träumen von einem Schweigen der Waffen?  

Auch wenn die Bibel nicht mit einer pazifistischen Stimme spricht – und auch wenn die Bibel uns nicht die Entscheidung abnimmt, was wir im Heute zu tun haben, richtet doch die biblische Überlieferung unsere Füße auf einen Weg, auf dem wir lernen sollen, friedfertig zu werden.  

Und so ist die Frage, ob es denn wahr sei mit dem Kind damals in der Krippe, mit der anderen verknotet, ob denn die Utopie noch eine Zukunft hat.

Ob das Träumen von dem, was noch keinen Platz hat…hier bei uns… so wie es die Engel gesungen haben…bei den Hirten…in dieser Heiligen Nacht, noch gilt.  

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.  

Heute?

Hier…in unserem Land…auf dieser Welt?  

Augenscheinlich spricht ja alles dagegen.  

Ich sagte eben, dass die Bibel nicht mit einer pazifistischen Stimme spricht…und ich könnte und wollte auch heute nicht die Position beziehen, dass eine Gegenwehr gegenüber Aggressoren nicht sein dürfte.  

Aber hat sich damit das Träumen…die Utopie erledigt?  

Ich sage Nein!  

Wir brauchen das Träumen davon, dass Gewalt zu einem Ende kommt.

Mehr noch: wir brauchen das Träumen davon, dass wir uns nicht vom Ende des Feindes, sondern vom Ende des Feindseins bewegen lassen…und dass wir daran unbeirrt festhalten!  

Wir brauchen das nicht nur um dieser Welt und der nachkommenden Generationen willen – sondern auch um unserer selbst willen.  

Denn das Träumen ist so etwas wie eine Entgiftung unserer Gedanken und Seelen.  

Denn all die Gewalt, die wir heute erleben, vergiftet alles. Auch unser Denken und Fühlen. Allein dadurch, dass sich ein Bild einstellt, als wäre Gewalt die einzige Option – als hätte Gewalt einen Totalitätsanspruch.  

Und da kommt uns im wahrsten Sinne des Wortes an diesem Tag – an diesem Abend – dieses kleine Kind in der Krippe in die Quere und eröffnet uns (bildlich gesprochen) einen Raum voller Träume:  

Das, was z.B. der Prophet Micha formuliert hat:  

"Und Gott wird das Recht aufrichten unter den Völkern und schlichten zwischen vielen Nationen. Sie werden ihre Schwerter zu  Pflugscharen umschmieden und ihre Spieße zu Winzermessern. Nicht mehr wird Volk gegen Volk das Schwert erheben und sie werden den Krieg nicht mehr lernen." (Micha 3)  

Oder das, was wir eben schon als Lesung vom Propheten Jesaja gehört haben – diese unvergleichliche und scheinbar über das Ziel hinausschießende Vision vom Frieden aller Kreaturen dieser Erde:  

"Da wird der Wolf beim Lamm Schutz finden und der Panther beim Böcklein lagern, Kalb und junger Löwe werden zusammen fett und ein kleines Kind kann sie zusammen auf die Weide führen. Da werden Kuh und Bären weiden, zusammen werden sich ihre Jungen lagern. Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, da wird der Säugling am Loch der Kobra spielen und nach der jungen Vieper hat das Kleinkind die Hand ausgestreckt". (Jesaja 11)  

Träume, die ganz bewusst Grenzen und Vorstellungen überschreiten, um unseren starren Blick auf das Grauen zu unterbrechen.  

Das ist das Weihnachtsgeschenk an uns – uns überreicht und anvertraut – geschenkt von diesem Kind ist der Krippe: diesen Raum voller Träume immer wieder betreten zu können… darin innezuhalten… darin zu verweilen – und jeden Tag neu Kraft zu schöpfen.

Damit wir an unserer Welt nicht irre werden – als wäre das das Einzige, was wir zu erwarten hätten…als hätte das das letzte Wort.  

Hat die Utopie noch eine Zukunft?

Das Kind in der Krippe ist das JA zu dieser Frage.  

Es bedarf der großen Träume, um die kleinen Schritte zu gehen - es bedarf der kleinen Schritte, damit die Träume keine Träume bleiben.

Oder um es anders zu formulieren:

Weil das, was ist, nicht alles ist, kann sich das, was ist, auch ändern. Und wir können dazu beitragen.  

Amen.

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed