​Predigt für den 2. Sonntag nach Trinitatis am 18. Juni 2023

​Predigt für den 2. Sonntag nach Trinitatis am 18. Juni 2023

​Predigt für den 2. Sonntag nach Trinitatis am 18. Juni 2023

# Predigten

​Predigt für den 2. Sonntag nach Trinitatis am 18. Juni 2023

Georg Kalinna

Ich habe keine Zeit.

Keine Zeit, zu deinem Geburtstag zu kommen.

Keine Zeit, Essen zu gehen.

Keine Zeit für die Steuerklärung.

Keine Zeit für deine Hochzeit.

Keine Zeit.

Keine Zeit für dich, für uns.

Ich reagiere selbst oft so. Weil ich so viel zu tun habe oder denke, dass ich so viel zu tun habe oder mir für manche Dinge Zeit nehme, für die ich mir weniger Zeit nehmen sollte. Dabei ist unsere Zeit ja begrenzt.

This is the day. Heißt es in dem Stück von John Rutter. This is the Day the Lord hath made. Dies ist der Tag, den der Herr macht. So zitiert Rutter den 118. Psalm. „Dies ist der Tag“ ist mehrdeutig. Der Psalm meint vermutlich einen Festtag, an dem man in den Tempel eingezogen ist. Aber letztlich verdankt sich ja jeder Tag Gott. Und dann ist da noch der Tag, der bildlich für die Ewigkeit selbst steht – der Tag, den Gott gemacht hat. Es ist auch der Tag der Entscheidung. Der Kirchentag stand in diesem Jahr unter dem Motto „Jetzt ist die Zeit“. Mit diesem Satz tritt Jesus nach seiner Taufe durch Johannes zum ersten Mal öffentlich auf. Auch das eine Variation des Satzes: „Dies ist der Tag.“

„Dies ist der Tag“, „jetzt ist die Zeit“ ist ein Aufruf, aber auch eine Einladung. Jesus erzählt davon, als er selbst zu Gast ist bei einem angesehenen jüdischen Gelehrten. Ich lese aus dem Lukasevangelium.

„Ein Mann veranstaltete ein großes Festessen und lud viele Gäste ein. Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener los und ließ den Gästen sagen: ›Kommt, jetzt ist alles bereit!‹ Aber einer nach dem anderen entschuldigte sich. Der erste sagte zu ihm: ›Ich habe einen Acker gekauft. Jetzt muss ich unbedingt gehen und ihn begutachten. Bitte, entschuldige mich!‹ Ein anderer sagte: ›Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft und bin gerade unterwegs, um sie genauer zu prüfen. Bitte, entschuldige mich!‹ Und wieder ein anderer sagte: ›Ich habe gerade erst geheiratet und kann deshalb nicht kommen.‹

Der Diener kam zurück und berichtete alles seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Diener: ›Lauf schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt. Bring die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten hierher.‹ Bald darauf meldete der Diener: ›Herr, dein Befehl ist ausgeführt, aber es ist immer noch Platz.‹ Da sagte der Herr zu ihm: ›Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!‹ Denn das sage ich euch: Keiner der Gäste, die zuerst eingeladen waren, wird an meinem Festessen teilnehmen!“

This is the day. Dies ist der Tag. Der Tag, an dem Gott selbst einlädt. Der Tag, der wie ein großes gemeinsames Essen ist, ein Grund zur Freude.

Das ist keine Jenseitsvorstellung für Introvertierte. Aber es ist eine, die die Freude und die Gemeinschaft in den Mittelpunkt rückt.

Früher hat man diese Geschichte oft so verstanden: Die, die da absagen, das ist das Volk Israel, das sich von Gott entfremdet hat. Die Benachteiligten, das sind die Christinnen und Christen. Ihnen wendet sich Gott zu.

Das ist natürlich zu einfach, um wahr zu sein.

Es sollte einen schon stutzig machen, dass man so als Christ das gute Gefühl bekommt, besser zu sein als andere. Und auch benachteiligt zu sein, ja, das eigentliche Opfer zu sein, dessen sich Gott annimmt. Das ist eine bequeme Auslegung.

Schon naheliegender finde ich, dass es Gott um wirklich Benachteiligte geht. Und dass es Gott entspricht, sich auf die zu konzentrieren, die wir als Gesellschaft zu Opfern machen. Und dass sie sofort verstehen, was es heißt, eingeladen zu werden. Wer privilegiert ist, hat es nicht nötig, Einladungen anzunehmen, sondern den Luxus auch einmal abzusagen. Worauf man verzichtet, ist nur die Freude, die dabei aufkommen kann.

Beide Auslegungen, die jüdisch-christliche und die soziale haben etwas gemeinsam: Sie setzen voraus, dass meine Frage die ist, zu welcher Gruppe von Eingeladenen ich gehöre. Gehöre ich zu denen, die die Einladung ausschlagen oder zu denen, die sie annehmen? Und ich will ja zu denen gehören, die am Ende mit dabei sind.

Ich frage mich: Ob das nicht vielleicht zwei Möglichkeiten sind, die sich nicht unbedingt ausschließen. Zwei Möglichkeiten, die in mir selbst liegen; die wir alle in uns tragen. Es geht ja eigentlich darum, was ich mit meiner Zeit anfangen will. Wofür nehme ich mir Zeit?

Gottes Einladungen begegnen mir im Leben immer wieder. Manchmal sage ich zu Gott: Ich habe gerade einen Acker gekauft. Jetzt muss ich ihn unbedingt ansehen. Ich habe meine Kopfhörer im Ohr, höre meinen Podcast, will nicht angesprochen werden. Verschwende Zeit auf Youtube, obwohl ich die Zeit sinnvoller nutzen könnte.

Aber manchmal fühle ich mich wie jemand der auf der Landstraße sitzt. Es ist der Teil in mir, der denkt: Es genügt nicht, was ich mache. Und ich bin dankbar, wenn ich von Gott eingeladen werde. Kennt ihr das Gefühl, bei einem Fest oder einer Einladung zu sein, auf die man im Vorhinein keine Lust hat – man hat ja so viel zu tun, und was hat mich sich schon zu sagen? – und dann erlebt man einen der lustigsten, schönsten Abende mit den besten Gesprächen? So ist Gottes Einladung.

This is the day. Jetzt ist der Tag. Das war wie gesagt auch Thema auf dem Kirchentag in der letzten Woche.

Hat jemand den Abschlussgottesdienst verfolgt?

Der Pfarrer Quinton Cesar hat dort die Predigt gehalten. Cesar ist Ehemann einer ehemaligen Mitvikarin. Deshalb habe ich mich besonders gefreut, dass er die Predigt gehalten hat. Er ist schwarz und Südafrikaner. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt und arbeitet er als Pastor in Ostfriesland.

Ich werde länger aus seiner Predigt zitieren. Weil wir alle hören sollten, was er zu sagen hat. Weil es auch darum geht, was es heißt, Gottes Einladung anzunehmen.

Aufhänger seiner Predigt ist ein Spruch von seiner Großmutter aus seiner Kindheit, an den er sich mit einem Lächeln erinnert. Ich kann ihn nicht im Original, in Afrikaans, aussprechen, aber er heißt übersetzt: „Hey du, lüg nicht so.“ „Du, lüg mich nicht an.“ Cesar sagt: „Und deshalb werde ich euch nicht anlügen. … Wir zitieren gerne ‚Glaube, Hoffnung, Liebe‘, wir sagen ‚Die Liebe leitet uns‘, wir singen ‚All you need is love‘ … Ich weiß, wie es ist, diskriminiert zu werden. Ich und Menschen wie ich. Wir kennen die Grenzen und Schwächen des Satzes ‚Liebe deinen Nächsten‘. … Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe. Das erinnert mich an einen Happyland-Zustand. Happyland, das ist ein Wort von Tupoka Ogette. Und damit beschreibt sie, wie sich Menschen fühlen, die keine Diskriminierungen erfahren und auch nicht sehen, dass andere sie erfahren. Leute aus Happyland sagen: ‚Gott liebt uns doch alle gleich.‘ Sie sagen: ‚Ich sehe keine Hautfarbe, keine Behinderung, kein Geschlecht.‘ Sie sagen: ‚Jesus Christus hat uns doch alle durch seine Liebe befreit.‘ Sie sagen: ‚Die Kirche ist ein sicherer Ort für alle.‘ Bitte lügt uns doch nicht an. Es ist viel leichter, von befreiender Liebe zu predigen, als eine Liebe zu leben, die befreit. Doch wenn ihr von der Liebe predigt, die alles besiegt, und trotzdem meine Geschwister und mich diskriminiert – wegen unseres Einkommens, unserer Hautfarbe, unserer Behinderung oder unserer queeren Identität. Dann sagen wir: Lügt uns nicht an! Meine Geschwister und ich – wir sind Kirche. Wir sind kein Gegenüber, brauchen keine Nächstenliebe oder Zuwendung von oben herab.  Wir sind Kirche.  Und meine Geschwister und ich sagen: Jetzt ist die Zeit!  Wir vertrauen eurer Liebe nicht.  Wir haben keine sicheren Orte in euren Kirchen. Und ich werde euch heute nicht anlügen. Jetzt ist die Zeit zu sagen: ‚Wir sind alle die letzte Generation.‘ Jetzt ist die Zeit zu sagen: ‚Black Lives Always Matter.‘ Jetzt ist die Zeit zu sagen: ‚Gott ist queer.‘ Jetzt ist die Zeit zu sagen: ‚We leave no one to die.‘ … Jesus, selbst Flüchtling und Asylsuchender sagt: ‚Öffnet bitte nicht nur eure Herzen. Öffnet auch eure Grenzen.‘ Gott ist immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, die nicht gesehen und nicht gehört und nicht genannt werden. Und wenn Gott da ist, dann ist da auch unser Platz. … Jetzt ist die Zeit, um uns an die befreiende Liebe von Jesus zu kleben. Nicht an Institutionen, nicht an Worte, Traditionen, Macht, Herkunft. … Klebe dich an die Liebe Gottes, die befreit. …“

So weit Quintons Worte.

Ich weiß nicht, ob sie ahnen, was dann passiert ist. Man kann fast sagen: Was zu erwarten war. Aber das macht es nicht weniger bitter. Quinton wurde mit Hass und Rassismus im Netz überschüttet. Die Internetseite der Kirchengemeinde musste vom Netz gehen. Sie mussten das Telefon ausstellen, nicht zuletzt wegen der zwei Kinder. Ich erspare Ihnen die Kommentare, darunter auch Kommentare von solchen von Menschen, die sich selbst als Christen bezeichnen.

Das Präsidium des Kirchentages hat bald darauf zu Recht geschrieben: „Niemand muss den Aussagen der Predigten oder den Elementen der Schlussgottesdienste zustimmen. Austausch und selbst produktiver Streit darüber sind sogar erwünscht – auch unter uns. Aber Angriffe auf jene, die berechtigt Rassismus und Diskriminierung in der Kirche anprangern, entbehren jeder Form von Anstand und Streitkultur, sie sind zutiefst unchristlich.“

Ich bin selbst ein Happylander. Happyland. Der Ausdruck dafür, dass man als privilegierter Nichtdiskriminierter blind ist für Diskriminierung. Ich erlebe keine Diskriminierung. Ich sehe sicher zu selten, wo ich diskriminiere, wo meine Mit-Happylander diskriminieren. Ich habe viele Privilegien. Happylander sagen: „Gott, heute muss ich mich um meinen Ochsen kümmern. Um Rassismus kümmern kann ich mich leider nicht. Dafür habe ich keine Zeit.“

Am Ende des Gleichnisses sagt Jesus: „Keiner der Gäste, die zuerst eingeladen waren, wird an meinem Festessen teilnehmen!“ Dieses Ende der Erzählung von Jesus liest sich wie eine Drohung.  Es hört sich an, als hätten Menschen durch Unachtsamkeit ihre Chance verpasst. Und ich muss ehrlich sagen. Mein erster Gedanke war: Bei denen, die einen schwarzen Pastor anfeinden, wenn er sagt, dass Gott queer ist; wenn er sich gegen Diskriminierung aussprich; wenn er sagt: ‚Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe‘. Die, die so jemanden mit Hassbotschaften überschütten – die schlagen Gottes Einladung aus. Die sagen: „Lass mich mit deiner Einladung in Ruhe. Ich bestimme, wer wo hinein kommt.“

Aber ich glaube nicht, dass Gott Menschen verloren gibt. Wenn es stimmt, dass es nicht um Menschengruppen geht, sondern um Anteile innerhalb von Menschen, dann heißt das: Nicht als Personen werden Menschen vom großen Gastmahl, von der Freude, ausgeschlossen. Sondern Anteile wie Hochmut, Überheblichkeit, Achtlosigkeit. Diese Anteile werden nicht mehr sein. Was bleiben wird, sind Freude und Güte.

Gottes Einladungen begegnen mir immer wieder. Und so kann ich mich immer wieder fragen: Welche Stimme behält in mir die Oberhand? Kann ich mir für die nötigen Dinge die Zeit nehmen, weil Gott mir die Zeit geschenkt hat? In vielen, vielen Momenten kann ich diese Frage neu beantworten. Das Gleichnis ist keine Geschichte von verpassten Chancen, sondern von Möglichkeiten.

Und was, wenn wir in dieser Geschichte noch ganz woanders vorkommen? Wenn wir gar nicht unter den Eingeladenen sind. Sondern wenn wir diejenigen sein sollen, die einladen, die Diener des Hausherrn? Dann sind wir nicht nur passive Empfänger, die sich zu einer Einladung verhalten sollen, sondern aktiv. Weil wir die dazu holen, die nicht schon immer da waren.

Nachdem die Diener erfolglos die ersten Gäste eingeladen haben, schickt der Hausherr sie noch einmal los. Und sie haben Erfolg. Die Diener berichten ihrem Hausherrn, dass es geklappt hat: Die Benachteiligten und Diskriminierten kommen zum Festmahl. Gäste sind jetzt also da. Und diese Gäste verstehen, was das für ein Geschenk diese Einladung ist. Aber – und das finde ich spannend – damit geben sich die Diener nicht zufrieden. Die klopfen sich nicht auf die Schultern und sagen: „So, jetzt ist gut. Wir haben Leute gefunden. Die können jetzt zum Fest kommen.“ Nein, die Diener sagen: „Herr, dein Befehl ist ausgeführt, aber es ist immer noch Platz.“ Es ist immer noch Platz. Heterosexuelle, weiße Männer wie ich saßen immer schon am Tisch, waren immer schon eingeladen. Dass jetzt andere dazu gehören, ist kein Grund, die Türen zu schließen. Es ist immer noch Platz.  Und der Hausherr antwortet auf die Aussage der Diener nicht: „Lasst gut sein. Die Armen, Blinden und Gelähmten sind dabei. Das reicht jetzt auch.“ Sondern er sagt: „Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird.“

Dränge die Leute zu kommen. Nicht mit einer penetranten Art, sondern mit Respekt und ehrlichem Interesse.

Dränge die Leute zu kommen, mit Klarheit, mit der Liebe, die nicht ohne Gerechtigkeit ist.

Dränge die Leute zu kommen mit Freundlichkeit und Freude.

Denn in Gottes Haus ist noch Platz.

Amen.

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